„Es gibt schon im Neuen Testament keine einzige Frage, die Menschen an Jesus richten, die von Jesus durch ein Eingehen auf das menschliche Entweder-Oder, das in jeder Frage gemeint ist, beantwortet würde.“ (Dietrich Bonhoeffer: Ethik, Gesamtausgabe Bd. 6, S. 314)
Eine biblische Geschichte erinnert, mich sehr an unsere Diskussionen: Eine Frau salbt Jesus mit einem sehr wertvollen Öl, und andere regen sich auf, dass das doch wirklich nicht nötig sei. Statt für Kosmetik hätte man das Geld auch für soziales Engagement ausgeben können. Jesus reagiert genervt, im ersten Satz mit einem mit einem Bibelzitat (5. Mose 15,11): „Arme habt ihr allezeit bei euch, und ihr könnt ihnen Gutes tun, wenn ihr wollt!“ (Markus 14,7)
Dieses Zutrauen: „Ihr könnt ihnen Gutes tun, wenn ihr wollt!“ versetzt mir jedes Mal beim Lesen einen kleinen Schlag. Weil es stimmt. Aber statt etwas zu tun, wird das lieber von anderen gefordert.
Arme habt ihr allezeit bei euch… In den letzten Jahrzehnten sind in unserem Land Tausende allein gestorben, ohne dass das Thema war. „Der Besuch wird weniger, dann bleibt er ganz weg, die Pflege hat keine Zeit,und dann wird nur immer mal durch den Türspalt geschaut“, so ein Arzt über die Zustände in den Kliniken.Hospizdienste sind für manche da. Und dennoch gibt es ein alltägliches einsames Sterben, Menschen, die irgendwo aufgefunden werden, und die anderen, bei denen immer mal jemand guckt, ob sie „es“ geschafft haben. Auch, wenn Künstler keine Videos drehen, ändert sich daran nichts. Sterbende sind allezeit unter uns – und wir können sie begleiten, wenn wir wollen.
Arme habt ihr allezeit bei euch… Das Gesundheitswesen soll arbeiten wie eine Autofabrik. Nur, dass da Menschen durchgeschoben werden. Und dass das schwer ist für die, die schieben. Sie möchten die Patienten gern als Menschen und nicht wie eine Autokarosserie behandeln. Das ist aber nicht gefragt. Ein Gesundheitswesen, das nur zum Teil an Menschen, aber auf jeden Fall an den Renditeerwartungen von Konzernen orientiert ist, und in dem möglichst nichts dazwischen kommen sollte, das haben wir seit langem. Wir – Gesellschaft, Politik, Staat und Wirtschaft – könnten es menschlich gestalten, wenn wir wollen. Besonders sichtbar geworden ist es 2020. Es gab eine politische Initiative für bessere Pflegelöhne, es gab keine einzige für menschenwürdige Arbeitsbedingungen in der Pflege. Dadurch, dass Künstler keine Kunst machen und keine Kritik üben, hat kein Intensivpfleger auch nur eine Minute mehr Zeit.
Jesus hat Partei ergriffen für die Armen und für ein Leben, das mehr ist als Produzieren, Konsumieren, Nahrungsaufnahme und Ausscheiden. Nichts ist alternativlos. Selbst Alternativen, also ein schlichtes „entweder – oder“ greifen zu kurz. Es gibt viele Möglichkeiten. Wenn wir wollen. Ein volles Leben in Gerechtigkeit und Menschenwürde ist erst erfüllt, wenn Sterbende begleitet werden, Intensivpfleger kürzere Arbeitszeiten und psychosoziale Begleitung haben, wenn Krankheit kein Kommerz mehr ist, wenn alle Kunst genießen können, sich bewegen, singen… Eins gegen das andere ausspielen – dafür haben vor allem Menschen Zeit, die weder in der Pflege noch in der Kunst tätig sind. Mich beeindruckt das nicht.
Wer etwas tun will, findet Wege – in der Kunst und im sozialen Bereich. Sogar in der Kosmetik ist mehr Aktion als im Twitter-Gemecker: