Margot Käßmann findet: Nein. In der Bibel ist auch anderes zu lesen. Zeit, genauer hinzuschauen.

I. Die unschickliche Sendung

Können etwa zwei miteinander wandern, sie hätten sich denn getroffen?

Brüllt etwa ein Löwe im Walde, wenn er keinen Raub hat?

Schreit etwa ein junger Löwe aus seiner Höhle, er habe denn etwas gefangen?

Fällt etwa ein Vogel zur Erde, wenn kein Fangnetz da ist?

Oder springt eine Falle auf von der Erde, sie habe denn etwas gefangen?

Bläst man etwa das Horn in einer Stadt, und das Volk entsetzt sich nicht?

Geschieht etwa ein Unglück in der Stadt, und der Herr hat es nicht getan?

Gott der Herr tut nichts, er offenbarte denn seinen Ratschluss seinen Knechten, den Propheten.

Der Löwe brüllt, wer sollte sich nicht fürchten?

Gott der Herr redet, wer sollte nicht Prophet werden?“ (Amos 3, 3-8; aus dem 8. Jh. v. Chr.)

Gott ist ein Sender – und die Bibel voller Boten. Gott sendet sein Wort, Boten, Engel, Feuer, Wind und Wetter, gelegentlich auch Krankheit und Krieg, so heißt es.

Auch Sonnenschein, Auferstehung, Liebe, Leben, Fruchtbarkeit, gute Ernten. Nur das, was uns gut tut, Gott zuzuordnen, und alles andere nicht, ist nicht logisch. Es klingt eher so, als habe sich Gott heutzutage Gouvernanten zu fügen, die sagen: „Na, das tut ein lieber Gott aber nicht!“

II. Sendungen empfangen, Zeichen deuten

Wer weiß in Sachen „Gott“ überhaupt etwas, und woher? Menschen lesen die Welt. Menschen destillieren Bedeutung. Wirklichkeit zu deuten und Sprachbilder zu entwickeln, schafft Kommunikationsmöglichkeiten, die Gruppenidentitäten ermöglichen und Zivilisationen hervorbringen. Menschen verständigen sich nicht nur über Schwerkraft, Windrichtungen, Tische, Stühle und Datenvolumen, sondern auch über Liebe, Würde, Gott, Recht, Gerechtigkeit, Geld und Gesetze. Im Unterschied zur Schwerkraft hätte nichts davon Bestand, wenn Menschen kein Vertrauen in diese Begriffsbildungen und ihr soziales Funktionieren hätten.

Die Welt von Schwerkraft & Co. Wird stetig mit der des Vertrauens kombiniert. Folgen von Ursachen und Wirkungen werden entwickelt, Lebensregeln werden abgeleitet. Ergebnisse sind z.B. Tempo 30 vor Kitas (relativ akzeptiert), Tempolimit auf der Autobahn (nicht in jedem Land durchsetzbar), AHA (so mittel). Im Unterschied zur Schwerkraft lassen sich komplexere Sachverhalte nicht jederzeit von jedem Menschen lückenlos verifizieren.

Tiefere Bedeutungen und Ursachen werden gesucht. Zuerst geht es um Fledermaus, Züchtung aus dem Labor, Klimawandel oder Mobilität, dann aber um den tieferen Sinn: Schuld, Fehlverhalten, Maßlosigkeit, Gott oder alles zusammen. Mit nichts können Menschen so schlecht leben wie mit „dumm gelaufen“ oder „Zufall“.

Je weniger Gott als steuernd hinter allem vermutet wird, umso stärker entwickeln Anhänger von Populärapokalypsen ihre Schreckensvisionen. Chemtrail, deep state, Judenfeindschaft, Vergiftungswahn und Recycling jahrhundertealter Phantasien von Kinderschlächterei. Wer, religiös oder nicht, tieferen Sinn sucht, interpretiert Nachrichten aller Art und selbst Erlebtes entlang den Linien von Angst, Gewohnheit und Tradition, Überzeugung oder Begeisterung. Zeichen finden sich immer, und es finden sich immer Erzählungen der Vergangenheit, die offen genug sind, dass sie sich auf die Gegenwart deuten lassen.

Eine ungedeutete Welt aber ist nicht zum Aushalten und in weiten Teilen nicht kommunizierbar.

III. Religiöse Erfahrung und Aussagen über Gott

Und Gott? Aussagen über ein Lebewesen, dem einige Dimensionen mehr zur Verfügung stehen, sind nicht im Sinne von „Schwerkraft“ möglich. Was existiert und in Bildern und Geschichten weitergegeben werden kann, ist religiöse Erfahrung. Ohne Deutung bleibt sie überwältigend und amorph, vergleichbar der Liebe: Für jemanden, der sich zum ersten Mal verliebt, ist es gut, einen Begriff zu haben und zu wissen, dass das, was er erlebt, als „verlieben“ gilt. Mit der Zeit wird er Differenzierungen wie „flüchtig“, „ernst zu nehmend“ usw. vornehmen. Das alles hilft, im Leben klar zu kommen. Dazu muss nicht geklärt sein, ob und in welchem Sinne „Liebe“ Realität zukommt. In der konkreten Situation leistet das vage „verliebt“ ein Vielfaches im Vergleich zu genauer Kenntnis hormoneller und psychischer Zustände, nämlich, dass es Betroffenen Kommunikation möglich macht, die hilft, das Leben zu gestalten.

Aussagen über Gott und religiöse Deutesysteme helfen, mit religiöser Erfahrung zu leben und mit ihr Leben zu gestalten. Jede Religion hat ein Deutesystem, wie eine eigene Sprache, durchaus mit Dialekten. Die verändert sich fortlaufend. Sie ist so dauerhaft, dass sich Bögen über Jahrhunderte spannen lassen, und doch so veränderbar, dass jede Generation eigenes entwickeln kann und muss. Wir wollen und können wir nicht komplett in den Deutungen vergangener Zeiten leben.

Religiöse Deutung und Aussagen über Gott stehen immer in Beziehung zu Kommunikationsstrukturen, Wertsetzungen und Kenntnissen ihrer Zeit. Gott wird wahrgenommen als oben, unten, überall, weit weg, außen, innen; zugewandt, engagiert, verärgert, strafend, liebevoll. Menschen, die sich religiöser Erfahrung aussetzen und sich in religiösen Deutesystemen bewegen arbeiten daran, das jeweilige Deutesystem kohärent und anschlussfähig zu gestalten, anschlussfähig für die religiöse Erfahrung anderer und gesellschaftlichen Diskurs.

IV. Gott, das Wetter und die Pandemie

Die Frage, ob Gott Unheil schicke und damit in autoritärer Weise strafe, entspringt einer Gottesvorstellung, die seit einigen Jahrzehnten umstritten ist: Gott als Herrscher, König, allmächtig, alles bestimmend. Diese Sichtweise ist bei religiös Konservativen und z.T. bei stark Unterprivilegierten anzutreffen. In dem Maß, in dem autoritäre Herrschaft eher als schwach denn als stark wahrgenommen wird, sind Aussagen über Gott als kontrollierenden Chef in der Kritik. Schon die Bibel entlarvt vermeintliche Stärke als schwach. Sie nimmt außerdem wahr, dass Großereignisse nicht zwischen guten und schlechten Menschen differenzieren: Wetter trifft immer alle, ob als Sturm, Frühlingswärme oder Hitzewelle.

Wenn der Mensch eigene Lebensgrundlagen gefährdet, ist das „Strafe Gottes“? „Django schießt nicht, die Leute fallen allein vom Pferd“, sagte einer meiner Lehrer im Blick auf Klausuren. Es genügt, wenn Menschen die Konsequenzen menschlichen Handelns erleben. Sicher: Das mag sich wie eine Strafe anfühlen. Dann gibt es die kindliche Erwartung, Gott müsse, wenn es allzu schlimm läuft, doch eingreifen und das menschliche Kinderzimmer wieder aufräumen.

Wie lässt sich Gottes Wirken beschreiben, wenn die Varianten „Strafen“ und „Aufräumen“ als Deutungen nicht überzeugen? Hier einige Möglichkeiten:

  • In der jüdischen Theologie gibt es die Lehre „Tzimtzum“, die besagt, dass Gott in sich selbst wie in einem Hohlraum für eigene Entwicklungen Raum schafft. Und dann entwickeln sich Erfindungen, Sozialsysteme, Kunst, Poesie… Jüdische Theologie ist im Kern optimistisch; dass es Gebote gibt, heißt: Gott glaubt an euch, Menschen!
  • In Judentum und Christentum gibt es den Aufruf Gottes zur Verhaltensänderung und die Vorstellung, dass Gott Propheten beauftragt, diesen Aufruf zu verbreiten. Propheten sind Enthüllungsjournalisten, die, die sagen, was Sache ist. Oft genug ist es etwas, was alle wissen, was aber so nicht gesagt wird, weil genügend Menschen davon zu profitieren meinen, dass es weiterläuft wie bisher. Propheten sagen: „Der Kaiser ist nackt.“ Neu ist das nicht, aber an der richtigen Stelle ausgesprochen, bringt es Steine ins Rollen. Judentum und Christentum sind da politisch. Es geht um das Gemeinwesen, Frieden, Versöhnung und menschliche Selbstbeschränkung zugunsten gemeinsamen Überlebens.
  • Gott wirkt von innen, durch Inspiration von Gruppen und einzelnen. Gedanken werden stark, Kraft zum Handeln entsteht – oft in Gegenbewegung zu gesellschaftlichen Strömungen, die von Ungleichheit und Gier bestimmt sind.
  • Das Gegenteil positiver Inspiration ist der „Schrecken“. Dieses Wort beschreibt gut, wie einzelne und Gruppen der Mut verlässt und Lähmung um sich greift. In der Erzählung des Auszuges aus Ägypten liest sich das so:Als nun Mose seine Hand über das Meer reckte, ließ Gott es zurückweichen […], und die Wasser teilten sich. Und die Israeliten gingen hinein mitten ins Meer auf dem Trockenen, und das Wasser war ihnen eine Mauer zur Rechten und zur Linken. Und die Ägypter folgten und zogen hinein ihnen nach, alle Rosse des Pharao, seine Wagen und Reiter, mitten ins Meer. Als nun die Zeit der Morgenwache kam, schaute Gott auf das Heer der Ägypter aus der Feuersäule und der Wolke und brachte einen Schrecken über ihr Heer und hemmte die Räder ihrer Wagen und machte, dass sie nur schwer vorwärtskamen. Da sprachen die Ägypter: Lasst uns fliehen vor Israel; ihr Gott streitet für sie wider Ägypten!“ Der „Schrecken“ beschreibt, wie Menschen(gruppen) wie aus dem Nichts der Stecker gezogen wird. Die Reaktionen auf die Pandemie hätten Menschen zu biblischen Zeiten mit einem „Schrecken“ beschrieben, der sich oder den Gott auf Menschen gelegt hat: Menschen, die ihre Gefährdung und Sterblichkeit verdrängt hatten, wird schlagartig bewusst: Leben ist endlich und zerbrechlich. Weder Gretas „I want you to panic!“ noch andere Krankheiten und Todesfälle haben auch nur annähernd Vergleichbares ausgelöst.

V. Sendung und Auftrag

Religiosität kann Lebenshilfe sein. Zwangsläufig ist das nicht. Um noch einmal das Beispiel der Liebe zu strapazieren: Nicht jede Liebe macht glücklich. Glaube, also Vertrauen im religiösen Sinne, macht nicht alle, die daraus leben, glücklich. Propheten gelten sogar als besonders unglücklich, und zwar wegen ihres gelebten Glaubens. Viele finden im Glauben eine große Tiefe und Weite, auch innere Unabhängigkeit von den Wechselfällen des Lebens. Er kann dem Leben eine eigene Schönheit geben, vergleichbar der Kunst, die einst in der Religion ihren Ursprung hatte.

Und Glauben zieht Arbeit nach sich. Wenn es anders ist, wenn Glaube und Tun auseinander fallen, verliert sich die Tiefendimension von Religion wieder.

Dass die Welt nicht virenfrei ist, und dass Pandemien drohen, wussten alle, die es wissen wollten. Auch, dass wir Menschen nicht unsterblich sind. Dass Klima und Arten gefährdet sind, und dass es nicht angeht, sich von Gier und Korruption manipulieren zu lassen. Religion verankert diese Sätze in Gott und deutet die Energie zum gewandelten Leben als Gabe Gottes.