Er war schon auf der Rückreise seiner Pilgerfahrt nach Jerusalem, ein hochrangiger Beamter. Er muss mit Personal unterwegs gewesen sein, vielleicht sieben, vielleicht 15 Sklaven mögen es gewesen sein. Es brauchte jemanden, der vorlief und nach dem nächsten Gasthaus schaute, Leute fürs Gepäck und Wachen zum Schutz.

Der Pilger war von weit her gekommen. Er verehrte den Gott Israels. Vielleicht stammte er von Juden ab. Vielleicht war seine Familie verschuldet gewesen, und er selbst war verkauft worden. Denn wenn sich kein anderer Weg fand, verkaufte man die Kinder als Arbeitskraft. Vielleicht waren schon seine Eltern verkauft worden und er wurde als Sklave geboren. Im Verhältnis zu seiner Herrschaft war er auch nichts anderes als ein Sklave. Hochgradig privilegiert – und klar gekennzeichnet. Er war kastriert worden. Denn wer direkten Zugang zum Inneren des Herrscherhauses hatte (das meint unser Wort „Kämmerer“: einer, der die inneren Räume betreten durfte), gehörte als Mann entweder zur königlichen Familie oder war kastriert. So schloss man aus, dass hohe Beamten eigene Erben hätten und für sich oder den Nachwuchs den Thron beanspruchten. Alle, die den Status des Pilgers sahen, wussten: Hier war einer, der bei allem Reichtum nicht sich selbst gehörte und keine Nachkommen haben würde.

Von seiner Reise hatte er eine Schriftrolle mitgebracht, Jesaja. Handgefertigt, wertvoll.

Der Pilger sitzt oben auf dem Wagen. Es ist langweilig. Obwohl es staubig ist, hat er sein kostbares Buch herausgeholt und liest. „Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf. In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der Erde weggenommen.“

Der Pilger bemerkt einen jungen Mann, der schon eine Weile mit der Gruppe geht. Der schaut ihn an. „Na, ist dir klar, wovon der Text handelt?“ fragt er. „Wie denn“, sagt der Pilger. „Bin ich ein Gelehrter? Sowas muss einem schon einer vom Fach erklären.“

Mag sein, er denkt etwas ganz anderes. Mag sein, er denkt: Ob ich jetzt die Hintergründe kapiere oder nicht, von dem, was ich da gelesen habe, verstehe ich wahrscheinlich mehr als du. „Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird…“, das kenne ich – und wenn du Pech hast in deinem Leben, wirst du das auch kennenlernen. Nur dieser Satz: „Wer kann seine Nachkommen aufzählen?“ ist sehr rätselhaft. Selbst wenn ein Verdammter Nachkommen hat, die würden ihn doch verschweigen. Wer sagt denn sowas: „Mein Stammvater war ein Gefolterter, Geächteter und Verbannter, ein Hingerichteter“? Aber das bleibt Gedankenspiel. Was er sagt, ist: „Was meinst du, von wem ist hier die Rede?“ Jetzt kann der junge Mann sich nicht bremsen. Er kann nicht anders, als an Jesus zu denken, wenn er hört: „Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf.“ Er erklärt, wie er es versteht. Er erzählt von Jesus, der sich nicht gewehrt hat. Jesus, von dem einige einen Aufstand erwarteten oder dass er mit der geballten Kraft aller Engel Gottes die Römer besiegen werde – und dann kam nichts. Jesus, der am Kreuz starb. Und dann hat er vielleicht gesagt: „Und ich, ich bin ein Nachkomme. Wir sind viele. Jesus ist nach seinem Tod wiedergekommen und erschienen, hell wie das Licht und doch greifbar und real – wenn ich daran denke, habe ich manchmal Angst, verrückt zu werden. Und gleichzeitig merke ich: Die Kraft Gottes, die in ihm war, ist über uns gekommen. Wir sind eine Gruppe, die lebt, wie Jesus das will, jedenfalls versuchen wir es. Keine Waffen, keine Gewalt. Macht und Geld ignorieren wir, und manche von uns gehen den Weg bis zur Hinrichtung selbst. Vor einiger Zeit ist einer von uns gesteinigt worden.“ Er redet davon, wie schön es ist, so unterwegs zu sein, und wie schwer. Was für eine Befreiung es ist, dass die Grenzen, die Menschen ziehen, nicht gelten. Arm, reich, mächtig, Sklave, Juden, Ausländer – alle können dazugehören, es gibt sogar römische Soldaten, die dabei sind – das muss man sich mal vorstellen: Menschen, die eigentlich Feinde sind, teilen das Brot miteinander.

Der Pilger ist beeindruckt von dem jungen Mann, er ist berührt und angesteckt, vielleicht von der jugendlichen Begeisterung, aber da ist noch etwas, diese Sache mit dem Dazugehören, und dass es egal ist, dass die äußerlichen Merkmale nicht gelten, dass man eine Familie ist – und dass dieser junge Mann sagt: „Ich gehöre zu Jesus, der hingerichtet ist, ich bin sein Nachkomme!“ Nachkomme eines Kinderlosen, eines Geächteten.

Kann man dazugehören, zu diesen Verrückten, zu diesen Hoffnungsvollen, Begeisterten?

Am nächsten Wasserlauf sagt der Pilger: „Guck mal, Wasser. Könntest du mich taufen, dass ich zu euch gehöre?“ Und tatsächlich: der junge Mann tauft ihn. Er betet für ihn. Er umarmt ihn und nennt ihn Bruder. Der als Sklave Gezeichnete gehört nun zu denen, die sich selbst die von Christus Gezeichneten nennen.

Nach Apostelgeschichte 8, 26 – 40

PS: Die nächste Taufgruppe für Menschen Erwachsene ist in Vorbereitung.

Kontakt: Renate Kersten, rkersten@kirche-berlin-wartenberg.de

Foto: Andreas Praefcke; Katholische Pfarrkirche St. Martin, Unteressendorf, Gemeinde Hochdorf (Riß); Taufstein mit Aufsatz „Philippus tauft den Kämmerer von Äthiopien“ (laut ausliegendem Führer der Kirchengemeinde), alternativ „Franz Xaver tauft einen Mohren“ (lt. der älteren Literatur)